

Spannung zwischen dem Bedürfnis, uns selbst zu entfalten, und der Notwendigkeit, unseren Beitrag für andere Menschen und Systeme zu leisten
Als soziale Wesen, die auf eine Einbindung in soziale Strukturen angewiesen sind, leben wir immer in der Spannung zwischen dem Bedürfnis, uns selbst zu entfalten, und der Notwendigkeit, unseren Beitrag für andere Menschen und Systeme zu leisten. In Familien sind zB Kinder häufig sehr stark zwischen ihrem Bedürfnis, einerseits mit den Eltern und anderen Familienmitgliedern zu kooperieren, und andererseits sich selbst zu entfalten und die eigene Persönlichkeit zu integrieren, hin- und hergerissen. Bei der Tätigkeit in Unternehmen fühlt man sich oft eingeschränkt durch betriebliche Vorgaben, die erfüllt werden müssen, oder betriebliche Rahmenbedingungen, die schwer zu ändern sind und uns daran hindern, eine berufliche Tätigkeit auszuüben, die uns persönlich wirklich erfüllt. Eine Balance zwischen diesen beiden Ansprüchen zu finden, ist nicht immer leicht und hängt von Einstellungen, der eigenen Persönlichkeit, den sozialen Verhältnissen, den konkreten Lebensumständen sowie sozialen Lernprozessen und Normen ab. Es ist oft schwer, die Frage zu beantworten, wann prosoziales Verhalten angebracht ist und wann wir unser Eigeninteresse ausreichend berücksichtigen müssen?
„Vergiss Dein ich, Dich selbst verliere nie.“
Johann Gottfried von Herder, deutscher Philosoph, Theologe und Dichter



Egal an was wir uns binden, irgendwann müssen wir uns davon auch wieder trennen
Emotionale Bindungen gehören unverzichtbar zum menschlichen Leben dazu. Doch schon die Primärerfahrung der Geburt vermittelt uns, dass Bindungen, die eingegangen werden, irgendwann auch wieder gelöst werden müssen. Egal an was wir uns binden, irgendwann müssen wir uns davon auch wieder trennen. Angesichts dieser Tatsache auf Bindungen zu verzichten, ist ein Ansatz, den man oft mit Einsamkeit, sozialer Distanz und fehlender menschlicher Wärme bezahlt. Umgekehrt führen verabsäumte Trennungen zu Manipulation, gegenseitiger Abhängigkeit und im schlimmsten Fall zu destruktiven Beziehungssituationen. Aus diesem Grund ist die Fähigkeit, Bindungen eingehen und wieder lösen zu können eine fundamentale Kompetenz, die wir im privaten und familiären Leben genauso benötigen wie im beruflichen Kontext. Es bleibt immer eine große Herausforderung, zu entscheiden, wann und wie man sich binden und wann und wie man sich trennen soll?
„Bindung und Freiheit sind sich in der Liebe kein Feind. Denn Liebe ist die größte Freiheit und doch die größte Bindung.“
Buddhistische Weisheit



Intuition scheint demnach eine unbewusste Intelligenz zu sein
Intuition ist ein unmittelbares, ganzheitliches Erkennen oder Erfahren von Sachverhalten, Sichtweisen und Gesetzmäßigkeiten. In Entscheidungssituationen vermittelt sie uns eine subjektive Stimmigkeit des Vorgehens. Dem intuitiven Erkennen steht die analytische Erkenntnis gegenüber, die Sachverhalte durch Beweise, Erklärungen und Definitionen zu ergründen versucht.
Viele Menschen folgen in so wichtigen und komplexen Fragen wie zB der Partnerwahl eher einer rätselhaften vorausschauenden Eingebung bzw. einer unmittelbaren Anschauung, die auf Erfahrungen, Einsichten und Erkenntnisse zurückgreift, deren Vorhandensein dem Menschen oft gar nicht bewusst sind. Intuition scheint demnach eine unbewusste Intelligenz zu sein, eine Fähigkeit, verwickelte Vorgänge sofort richtig erfassen zu können. Wir wissen oft mehr als wir zu sagen wissen. Doch nicht selten machen wir die Erfahrung, dass uns die Intuition in manchen Fällen einen richtigen und stimmigen, in anderen Fällen einen problematischen und verhängnisvollen Weg weist. Wie also damit umgehen?
„Intuition ist plötzliches Gewahrsein“
Kersten Kämpfer, Kybernetiker



Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist für uns unverzichtbar
Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist für uns unverzichtbar. Ohne Austausch mit den anderen ist es schwer, sich selbst zu erfahren und sich selbst kennen zu lernen. Doch innerhalb von Gemeinschaften gibt es viele unterschiedliche Interessen, Werte und Haltungen, die konkrete Organisations- und Machtkonstellationen mit sich bringen, die dazu führen können, dass Menschen an den Rand oder ins Abseits der Gemeinschaft gedrängt werden. Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl, der im NS-Regime vier Konzentrationslager als Gefangener erlebt und überlebt hat, meinte, dass es dem Menschen jederzeit und oft unerwartet passieren kann, dass er abgelehnt, ausgegrenzt, vertrieben und verfolgt wird. Wenn man in eine solche Situation gerät, stellt sich einerseits die Frage, ob man innerhalb des Systems eine Veränderung erreichen kann. Ist dies nicht möglich, ist zu klären, ob man mit den widrigen Umständen umgehen und konkrete Überlebensstrategien entwickeln kann. In manchen Fällen hilft nur die Flucht in ein anderes System mit der Herausforderung, dass man sich an das neue System anpassen und in es eingliedern muss. Nicht immer werden wir in einem neuen System willkommen geheißen und oft ist es schwer, sich in einem neuen System zurecht zu finden und zu integrieren. Die entscheidende Frage ist hier oft, wie man sich selbst ein Stück weit transformieren kann, ohne sich selbst zu verlieren, damit aus einem Integrationsprozess eine Inklusion werden kann?
„Lieber fordern wir Integration von anderen als Toleranz von uns.“
Paul Mommertz, deutscher Schriftsteller



Viele Väter sind noch immer weit entfernt von ihren Kindern
Die vielzitierte „Vaterlose Gesellschaft“ hat zwar einen Wandel erfahren und das Engagement der Väter in der Kindererziehung und Familiengestaltung hat in den letzten Jahrzehnten sicherlich zugenommen. Dennoch sind viele Väter noch immer weit entfernt von ihren Kindern. Das kann persönliche, emotionale oder rechtliche Gründe haben, kann aber auch durch die Beziehung zwischen Vater und Mutter bestimmt sein oder sich aus Familienkonstellationen ergeben. So wie Kinder ihre Mütter brauchen, benötigen sie auch ihre Väter als Vorbilder, Begleiter, Erzieher, Rahmengeber und Gegenüber, an dem man sich messen und mit dem man ringen kann. Väterliche und mütterliche Energien sind unverzichtbare Kräfte, die einen Menschen auf sein Leben vorbereiten, ihn nähren, prägen und formen aber auch verunsichern und verletzen. Vielleicht ist die schlimmste Verletzung, ein Defizit an diesen Energien zu erfahren?
„Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.“
Indisches Sprichwort



Management ist ein Handwerk, bei dem sich immer wieder die Frage stellt, wie man die Zügel am besten einsetzt, um die Dinge richtig und effizient unter Dach und Fach zu bringen
Im Gegensatz zur Fachkraft werden im Management nicht nur Aufgaben gelöst und Probleme behandelt, sondern Prozesse und Systeme eingeführt und ausgesteuert. Unter Bezug auf Vorgaben und Organisationsregeln werden aktuelle Herausforderungen im System angegangen, Leistungen koordiniert und unter Einschätzung von Risiken kontrolliert. Zentral ist das Erreichen bestimmter Ziele. Dabei ist es ein Mythos, dass das Managen eine reflektierte, systematische Planungs- und Umsetzungsarbeit auf Grundlage sorgfältig zusammengetragener und formalisierter Informationen ist, die von einer klaren zeitlichen Planung der Aktivitäten gekennzeichnet und primär durch die hierarchische Beziehung zwischen vorgesetzter Kraft und Mitarbeiterin bzw. Mitarbeiter geprägt wird. Vielmehr wird Management – so wie es auch der kanadische Professor für Betriebswirtschaftslehre und Management Henry Mintzberg beschreibt – von informellen Kommunikationswegen im Rahmen von Gesprächen, Telefonaten, Meetings und E-Mail-Verkehr und der Beziehung zwischen Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen bestimmt. Die Kontrolle des Geschehens ist dabei relativ. Es wird zwar so manches Vorgehen vom Management vorgegeben, doch auf viele Entwicklungen im betrieblichen Geschehen muss die Managerin bzw. der Manager spontan und flexibel reagieren, um diese für die Erreichung der gesteckten Ziele nutzbar machen zu können. Management ist ein Handwerk, bei dem sich immer wieder die Frage stellt, wie man die Zügel am besten einsetzt, um die Dinge richtig und effizient unter Dach und Fach zu bringen?
"Learning is not doing; it is reflecting on doing."
Henry Mintzberg, kanadischer Professor für BWL und Management



Zentrale Aufgabe der Führung ist es, eine Richtung vorzugeben
Zentrale Aufgabe der Führung ist es, eine Richtung vorzugeben. Diese Richtung meint kein konkretes Ziel, sondern eine glaubwürdige Vision im strategischen Sinn, die Orientierung gibt, Möglichkeiten und Chancen aufzeigt und mit Leitgedanken und Leitbildern die gemeinsam zu verfolgende Mission beschreibt. In diesem Sinn arbeitet Führung nicht im System, sondern am System, fokussiert sich nicht auf das Einhalten von Regeln, sondern auf das Gestalten von Regeln, fragt weniger danach, wie etwas zu tun ist, sondern danach, was zu tun ist. Der Blick der Führung richtet sich einerseits auf das operative Geschäft, das gewährleistet und optimiert werden muss, andererseits nach außen in das Unternehmensumfeld und den relevanten Markt des Unternehmens, um entscheidende Entwicklungen frühzeitig erkennen und auf sie reagieren zu können. Echte Führung kümmert sich um den Zusammenhalt im System, ist in der Lage, unterschiedliche Sichtweisen und Anschauungen zu integrieren und wichtige Bedürfnisse zu erkennen, wodurch die Dinge im Gleichgewicht gehalten werden und es der Führungskraft möglich wird, Menschen zu inspirieren und zu motivieren. Erfolgreiche Führung ist mutig, geht Probleme kreativ an und setzt ihre Macht dort ein, wo es notwendig ist, ohne sich dafür zu entschuldigen. Schlussendlich stellt sich aber immer die Frage, ob es in der Führungsrolle gelingt, trotz Einfluss und Macht noch zwischen System und Funktion unterscheiden zu können?
"Während andere danach suchen, was sie nehmen können, sucht ein wahrer König danach, was er geben kann."
Mufasa im Disney-Film "Der König der Löwen"



Menschen sind Gewohnheitstiere und richten sich gerne im Leben ein
Veränderungsprozesse gehören zu den schwierigsten und herausforderndsten Aufgaben im Leben. Sie gefährden die bisherige Balance, bringen uns ins Ungleichgewicht, lassen Ängste und Unsicherheit wachsen und machen uns schmerzlich bewusst, dass sich das Leben in einem ständigen Fluss befindet. Veränderungen verlangen, dass wir Neues lernen und Altes hinter uns lassen. Die innere Landkarte muss überarbeitet, korrigiert und nicht selten neu geschrieben werden. In Veränderungsprozessen muss man mit Widerständen, Gegenwehr und Ablehnung rechnen. Menschen sind Gewohnheitstiere und richten sich gerne im Leben ein. Da kommt Veränderung und Transformation oft nicht gelegen. Positiv betrachtet haben Routinen und Beständigkeit auch eine sehr wichtige und tragende Bedeutung für die Stabilisierung des Lebens. Daher sollte man Veränderungsprozesse jedenfalls nur dann angehen, wenn nach einer reiflichen Prüfung klar ist, dass Veränderung ein notwendiger und richtiger Schritt ist und der Veränderungsprozess die Chance in sich birgt, wieder ein Gleichgewicht zu erreichen. Es stellt sich die Frage, ob man als lebendes Fossil überlebensfähig bleibt, wofür es in der Natur einige Beispiele gibt, oder ob man dem evolutiven Anpassungsdruck nachgibt und sich den geänderten Umständen neu anpasst, wozu die meisten Lebewesen gezwungen sind.
„Der Wechsel allein ist das Beständige.“
Arthur Schopenhauer, deutscher Philosoph



Systeme sind Generationenprojekte, die sich rekursiv aneinanderreihen und sich aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft erstrecken
Systeme sind nur lebendig durch die Mitglieder, die sie am Leben erhalten und Teil des Systems sind. Verliert ein System seine Mitglieder, hört es auf zu existieren. Stirbt das letzte Mammut, ist auch die Art der Mammuts ausgestorben. Arbeitet niemand mehr für eine Organisation, ist diese insolvent und muss liquidiert werden. Hat eine Familie keine Nachkommen mehr, stirbt sie mit dem letzten Mitglied aus. So gesehen, besteht das System aus seinen Mitgliedern und Teilen und kann ohne diese nicht existieren. Gleichzeitig sind Systeme davon geprägt, dass Mitglieder neu in sie aufgenommen oder in sie hineingeboren werden und andere Mitglieder aus den Systemen ausscheiden oder sterben. Auf diese Weise betrachtet, bleiben Systeme in einem gewissen Sinn unabhängig von ihren Mitgliedern bestehen, weil sie diese überleben. Sie sind mehr als nur die aktuellen Mitglieder. Sie sind auch alle vergangenen und alle zukünftigen Mitglieder. Aus diesem Grund sind Systeme Generationenprojekte, die sich rekursiv aneinanderreihen und sich aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft erstrecken.
Wenn wir die Viabilität von Systemen sicherstellen wollen, braucht es die Bereitschaft und Fähigkeit, Themen und Aufgaben der Systemvergangenheit in die Gegenwart zu bringen und den aktuellen Umständen entsprechend anzupassen und zukunftsorientiert das System so zu gestalten, dass es von der Folgegeneration, die wir teilweise noch gar nicht kennen, übernommen und weitergeführt werden kann. Die Frage ist also, ob wir bereit sind, uns den Themen der Vergangenheit zu stellen, die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern und Chancen und Möglichkeiten für die Zukunft in dem Bewusstsein zu ergreifen, dass wir alles zur rechten Zeit ab- und übergeben müssen?
„Unser ganzes Dasein ist flüchtig wie die Wolken im Herbst; Geburt und Tod der Wesen erscheinen wie Bewegungen im Tanz. Ein Leben gleicht dem Blitz am Himmel, er rauscht vorbei wie ein Sturzbach den Berg hinab.“
Siddhartha Gautama, Buddha



Werte bringen zum Ausdruck, wer wir sind, an was wir glauben und welchen Grundannahmen wir folgen
Werte sind das Fundament, auf dem wir stehen. Sie bringen zum Ausdruck, wer wir sind, an was wir glauben und welchen Grundannahmen wir folgen. Sie sind ein zentraler Faktor unserer Identität. Wann immer sie bedrängt oder gefährdet werden, wird auch unsere Identität in Frage gestellt. Daher stellt die Auseinandersetzung mit Werten und Grundannahmen eine zentrale Lebensaufgabe dar. Wen möchte ich am Morgen im Spiegel sehen, wenn ich meine Zähne putze und mir das Gesicht wasche?
Ohne Werte weiß man nicht, was für einen selbst richtig oder falsch ist. Ohne Werte fehlt die Orientierung. Sie helfen bei der Einschätzung, wo man hingehört und wo nicht. Daher sind Werte von ausschlaggebender Bedeutung. Da wir uns in verschiedenen Systemen bewegen, ist es auch entscheidend, welche Werte zB in der Familie, im Freundeskreis oder im Unternehmen, in dem man arbeitet, vertreten werden. Stimmen die Werte hier nicht zusammen, gibt es hier ein Unbehagen, kann man nicht effektiv sein und das Richtige tun. Die Werte müssen nicht genau dieselben sein, aber sie müssen doch so nahe beieinander liegen, dass eine Koexistenz möglich ist. Sonst stellt sich schnell Frustration und eventuell Misserfolg ein.
Ein Wertekonflikt kann aber nicht nur mit der Außenwelt bestehen, sondern sich auch in unserer Innenwelt entwickeln. Manchmal haben wir Fähigkeiten und Stärken, die es uns erlauben, eine bestimmte Tätigkeit sehr erfolgreich zu erledigen. Doch es kann passieren, dass diese Tätigkeit mit unseren inneren Werten nicht zusammenstimmt. Hier kann sich schnell die Frage stellen, ob man Tätigkeiten und Aufgaben nachgehen will, die einen zwar erfolgreich machen aber die eigenen Werte nicht berücksichtigen oder vielleicht sogar verletzen, oder ob man den oft beschwerlicheren Weg nimmt und eine neue Herausforderung sucht, die mit den eigenen Werten in Einklang gebracht werden kann? Wem will ich also am Morgen im Spiegel begegnen?
„Ganz gleich, wie viele heilige Worte Du liest, ganz gleich, wie viele Du sprichst – was für einen Wert haben sie für Dich, wenn Du nicht nach ihnen handelst?“
Dhammapada, Sammlung von Aussprüchen des Siddharta Gautama (Buddha)



Dinge so zu betrachten wie sie sind, ohne zu beurteilen
Menschen haben oft ein gutes Gespür dafür, was Recht und was Unrecht ist. Doch in vielen Fällen glauben beide beteiligten Seiten im Recht zu sein, was dann Rechtsanwälte und Gerichte beschäftigt, häufig nicht zu jenem Ergebnis führt, das man erhofft hat, und zusätzlich noch eine Stange Geld kostet. Unter Juristinnen und Juristen ist bekannt, dass das Rechtssystem zwar Rechtssicherheit schaffen kann, es in vielen Fällen aber nicht gelingt, Gerechtigkeit und einen tragfähigen Ausgleich zwischen den Streitparteien zu schaffen, der neben einer klaren Regelung auch einen inneren Frieden für die Beteiligten mit sich bringt. Hier muss ehrlich gesagt werden, dass es den Gerichten und Behörden oft schlicht nicht möglich ist, alle relevanten Faktoren mit zu berücksichtigen. Wie sollte ein Gericht zB die subtilen und oft auch den Beteiligten nicht bewussten psychischen Abläufe in einer Partnerschaft berücksichtigen, wenn es um eine Scheidung geht. Vor Gericht zählen die beweisbaren Fakten. Da ist wenig Raum für innerpsychische Vorgänge. Mit oder ohne Unterstützung der staatlichen Rechtssysteme bleibt daher oft ein Gefühl von Unrecht und Ohnmacht zurück.
An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie man mit unveränderlichem Unrecht umgehen kann. Ein Ansatz besteht darin, dass man versucht, die Beurteilungsebene zu verlassen. Wir sind es gewohnt, Sachverhalte logisch zu erfassen, Zusammenhänge mit den Maßstäben unserer Vernunft zu beurteilen und uns von vergangenen Erfahrungen emotional leiten zu lassen. In der westlichen Kultur haben wir wenig Übung darin, aus der Rationalität auszusteigen und das Irrationale zuzulassen. Der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti lädt uns in diesem Zusammenhang ein, die Dinge so zu betrachten wie sie sind, ohne zu beurteilen. Der Verstand versucht ständig, die Dinge so zu verändern, wie er sie für richtig hält. Dabei wird verabsäumt, einfach zu beobachten, was ist und ganz tiefgreifend zu sehen, was passiert. Bei diesem Ansatz geht es darum, beim Unrecht stehen zu bleiben, es zu betrachten und seine gesamte Struktur kennen zu lernen. Man kämpft gegen das Unrecht nicht an, man verdrängt und ignoriert es aber auch nicht, sondern bleibt bei ihm stehen und beobachtet es in all seinen Nuancen. Ein Geist, der das Wesen und die Struktur des Unrechts schlagartig erkennt, kann sich davon befreien. Es ist zwar noch immer da, aber wir haben gelernt, was wir zu lernen hatten. Erst wenn wir das Unrecht in seiner vollen Tiefe jenseits unserer rationalen Prägung bewusst wahrgenommen haben, fällt es von uns ab. Vielleicht ist es das, was der Osten uns zu lehren hat, dass Wahrheit nicht etwas ist, das man sammelt, anhäuft und vorrätig hat, sondern etwas, das man betrachtet und dem man zuhört (vgl. dazu in: KRISHNAMURTI J.: Mensch sein, Über die Entfaltung der Freiheit, Theseus Verlag, Berlin, 1. Auflage, 2001, S 33 ff)?
„Alles Unrecht hat seinen Ursprung im Geist. Wenn der Geist verwandelt wird, wie kann dann Unrecht bleiben?“
Siddhartha Gautama, Buddha



Doch ein Schuldgefühl bedeutet nicht unbedingt, dass man wirklich schuldig ist
Wenn sich jemand schuldig fühlt, kann das anderen sehr große Macht verleihen, denn der Schuldige hat die Tendenz, seine Schuld durch Ausgleich oder Sühne zu tilgen. Doch ein Schuldgefühl bedeutet nicht unbedingt, dass man wirklich schuldig ist. Aus der Familientherapie ist bekannt, dass sich Kinder oft für die Trennung ihrer Eltern schuldig fühlen. Dabei liegt der Grund für die Trennung in fast allen Fällen bei den Eltern. Die Kinder nehmen die schwerwiegenden Konsequenzen einer Trennung der Eltern für das Familiensystem und damit ihr eigenes Leben wahr. Es entsteht tatsächlich eine große Last, die auf ihren Schultern ruht und die sie gerne ändern würden. Doch es fehlt ihnen oft die Macht, irgendetwas gegen die Entwicklungen zu tun. Sie fühlen sich schuldig, weil sie gegen das, was völlig nachvollziehbar im Familiensystem nicht stimmt, nichts oder nur wenig tun können. Doch schuld sind sie daran nicht. Wie dieses Beispiel zeigt, sind die Zusammenhänge, die zu Schuldgefühlen führen, oft sehr komplex und haben in vielen Fällen systemische Hintergründe. Das Funktionieren eines Systems hängt von allen Mitgliedern des Systems ab. Die Verantwortung, für das, was passiert, ist auf viele Personen verteilt. Daher hilft es meist wenig, einer einzelnen Person oder Gruppe innerhalb des Systems die Schuld für negative Entwicklungen zu geben. Doch genau das passiert, wenn bestimmte Personen oder Personengruppen zu Sündenböcken gemacht werden. Wenn der Schuldige ausgemacht ist, kann man im System so weiter machen wie bisher. Alles wunderbar. Leider nicht, denn das eigentliche Problem wirkt im Verborgenen weiter und nimmt als kalter Konflikt in vielen Fällen sehr destruktive Formen an. Nicht selten sind es gerade diejenigen im System, die viel Macht auf ihre Person vereinen, die diesen Mechanismus der Schuldzuweisung zu ihrem Vorteil nutzen. Dabei übersehen sie aber, dass auch ihr Wohl à la longue vom Wohlergehen des Systems abhängt. Bleibt die Frage, was man bei auftretenden Schuldgefühlen wirklich tun kann und wo das eigentliche Problem im System verborgen liegt?
„Es gehört oft mehr Mut dazu, seine Meinung zu ändern als ihr treu zu bleiben.“
Christian Friedrich Hebbel, deutscher Dichter